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Wie Musikschaffende TikTok für sich nutzen können

Spezial/Schwerpunkt von Olga Kirschenbaum
veröffentlicht am 15.02.2022

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Wie Musikschaffende TikTok für sich nutzen können

© Olivier Bergeron via Unsplash

Mit rund einer Milliarde monatlich aktiver Nutzer hat die chinesische Videoplattform TikTok enormen Einfluss auf die Musikindustrie. Trotz der hohen Star-Dichte auf TikTok bietet die App jedoch auch aufstrebenden Musikschaffenden neue Möglichkeiten.

Für manche User ist TikTok einfach nur ein Hobby, für andere ist das endlose Scrollen zu einer Sucht geworden. Manche Musiker nutzen die App als Inspirationsquelle, andere erzielen damit den Hauptteil ihres Einkommens. Musik ist in vielen Fällen der gemeinsame Nenner der Kurzvideos. Was kann TikTok aber für Musikschaffende und ihre Arbeit leisten?

Marketingstrategie: TikTok

Im Grunde lassen sich auf TikTok zwei Marketing-Prinzipien unterscheiden: Virales Marketing und Influencer-Marketing. Anders als bei in Auftrag gegebenen Marketing-Kampagnen werden in den Sozialen Medien Musikschaffende selbst zu Influencern; die aktiven User – zum Träger viraler Musiktrends.

Ein Beispiel: Nachdem die damals 18-jährige Olivia Rodrigo die persönliche Entstehungsgeschichte ihrer ersten Single in einem TikTok-Video vorgestellt hatte, wurde der Song "drivers licence" über Nacht zum Nummer Eins-Hit. Von einer wenig bekannten Disney-Schauspielerin schaffte Rodrigo es 2021 nicht zuletzt Dank TikTok zum Times Magazine’s Entertainer of the Year.

→ Lest hier auch unser Interview über Social Media-Marketing für Bands!

Neue Plattform – alte Stars

Unter den beliebtesten TikTok-Accounts finden sich neben solchen Newcomern auch länger bekannte Artists wie die amerikanische Singer-Songwriterin Billie Eilish ebenso wie vielfach etablierte Promis wie Will Smith u.v.m. Folglich werden die jüngeren Sozialen Netzwerke teilweise von denselben Namen dominiert wie die klassischen Unterhaltungsmedien.

Obwohl es sich hierbei um professionelle Akteure der Unterhaltungsbranche handelt, wird bereits schnell erkenntlich, dass die Beliebtheit ihrer Accounts nicht auf ihre hauptberuflichen Tätigkeiten zurückzuführen ist. Stattdessen lassen unterhaltsame (Privat-)Videos oder schlichtweg ehrgeizige Fans deren Popularität steigen.

Part of the job

Zwar sind die TikTok-Accounts arrivierter Stars kein sonderlich hilfreicher Referenzpunkt für aufstrebende Musikerinnen und Musiker. Doch es lässt sich zunehmend ein allgemeiner kausaler Zusammenhang zwischen dem Erfolg in der Musikszene und dem in den Sozialen Medien erkennen.

Durch TikTok-Videos können Kreative wie Olivia Rodrigo Interesse erregen und den Eindruck von Zugänglichkeit vermitteln, die ihre Fans an sie bindet und das Gefühl einer Community erschafft. Zudem regt ihre Aktivität in den sozialen Medien das Engagement ihrer Fans an, sodass im nächsten Schritt auch ihre Klickzahlen bei den Streaming-Anbietern steigen.

Außerdem können Artists nach dem Vorbild von Jason Derulo, der mit über 50 Millionen Followern einen der erfolgreichsten TikTok-Accounts führt, beispielsweise Dance-Challenges zu ihrer eigenen Musik starten, die andere User zum Mit- und Nachmachen anregen. Auf diese Weise gehen Song-Ausschnitte – eingängige Hooks oder catchy Lines – nach dem Schneeballprinzip viral.

Die Musikfluencer

Der unfassbare Content-Strom und die beschränkte Video-Dauer machen den Wiedererkennungswert der Content Creators zugleich wichtiger als je zuvor. Anders als bei dem Nachahmungsprinzip fallen Musiker daher vermehrt durch die Etablierung bestimmter Gimmicks, etwa eines Signature-Moves, auf. Anders als bei dem Nachahmungsprinzip fallen Musiker daher vermehrt durch die Etablierung bestimmter Gimmicks, etwa eines Signature-Moves, auf.

Doch nicht alle TikTok-Größen verdanken ihren Werdegang einer zufälligen "share & save"-Welle. Nach dem YouTube-Prinzip "broadcast yourself" bauen sich Selfmade-Stars, wie der YouTuber Conan Gray, seit Jahren mühsam eine Musikkarriere mittels der Sozialen Medien auf. Inzwischen ist Gray einer der erfolgreichsten "TikTok musicians".

YouTube 2.0

Zu den erfolgreichen Tik-Tok-Musikern zählen auch Social Media-Persönlichkeiten, deren Online-Karriere überhaupt erst ihr musikalisches Debüt ermöglicht. Das mag bei Liebhabern "echter" Tonkunst Unbehagen auslösen. Allerdings ist das Phänomen der singenden Models, ebenso wie das der schauspielernden Sänger, abseits der neuen Medien eigentlich längst bekannt.

Insgesamt verzeichnet die verhältnismäßig kurze Laufzeit von TikTok einige krasse Erfolgsgeschichten, in deren Mittelpunkt die Interpreten selbst stehen. Im Unterschied zu Major Label-Kampagnen kann nämlich jede und jeder, ähnlich wie bei YouTube, eigenständig von den genannten Marketingstrategien Gebrauch machen.

Blind auditions für die Songs

Wenn aber ein losgelöstes Song-Snippet durch Verwendung in Memes Bekanntheit erlangt, bleiben die Artists und das vollständige Lied hinter den 30 Sekunden Ruhm in einem Kurzvideo häufig zunächst unbekannt. In solchen Fällen kommt die Popularität von (eigenen) Songs auf TikTok völlig unerwartet.

Infolgedessen tauchen auf der App gelegentlich Videos auf, in denen Songwriter der Überraschungshits, wie etwa Emmy Meli - Autorin von "I Am Woman", über ihre plötzliche Bekanntheit staunen. Auf der anderen Seite kennen vermutlich wenige den Top-Meme-Hit "Oh No" von Kreepa in voller Länge. Manche der beliebten Snippets erweisen sich zudem als Teile relativ mittelmäßiger Songs.

Global und divers

Gegenüber den On-Demand-Diensten wie Spotify erweist sich das Scroll-Modell von TikTok in jedem Fall als vorteilhafter für weniger verbreitete Genres. Denn sie können den Usern einfach so im Feed begegnen. Wer die zugunsten der Mainstream-Ware ausgerichtete Macht der Algorithmen fürchtet, sollte unbedingt einen genaueren Blick auf die TikTok-Kultur werfen:

Auf TikTok erfolgt die Einordnung und Bewertung von Musik nicht mehr nach Genre-Schubladen und Chart-Platzierungen, sondern in Vibes und Ästhetiken (z.B. das Landleben idealisierende Cottagecore), die bisherige Stereotype auflösen.

App-Nutzerinnen weltweit entdeckten so nischige Newcomer wie die belarussische Post-Punk/Dark Wave-Band Molchat Doma und benutzten ihre Musik für für stimmungsvolle Foto- und Video-Collagen.

Aus der Plattenkiste

Wie in anderen Bereichen der Unterhaltungsbranche gehört im Fall von TikTok Glück dazu, von anderen Influencern und ihren Followern entdeckt zu werden. Allerdings ist nicht alles, was neu ist, direkt im Trend – und nicht alles, was im Trend ist, ist neu.

So erlebten Songs wie "Put Your Hand On My Shoulder" von Paul Anka aus dem Jahr 1959, hier als Remix im Rahmen der Silhouette-Challenge, oder durch Verwendung in thematischen Video-Montagen eine Wiederbelebung. Andere Beispiele, wie Meghan Trainors Lied "Title" von ihrem gleichnamigen Debütalbum aus dem Jahr 2015, kamen als Meme-Songs Jahre nach ihrer Veröffentlichung zum unverhofften Erfolg.

Teilen macht Spaß

TikTok ist also ein offener Raum für musikalischen Output aller Art: Entgegen der Sorge vor einer Simplifizierung und Vereinheitlichung des Musikmarktes hebt der Musik- und Medienwissenschaftler Prof. Dr. Holger Schulze gerade die musikalische Vielfalt sowie die öffentliche Präsenz diverser Musikrichtungen auf der Videoplattform hervor.

Letztendlich bleibt die Freude am Machen und Teilen von Musik vordergründig. Als Hybrid aus einer "Musikvideo"-Plattform und einem Sozialen Netzwerk ist der TikTok-Feed voller Beiträge von talentierten Profi- und Laienmusikern, kreativer Herausforderungen und Kollaborations-Angebote von Musikbegeisterten für ihresgleichen, voller berufsspezifischer Memes und Inspiration. Vor allem aber ist die kleine Bühne vor einem großen Publikum nur einen Klick entfernt.

Die Schattenseiten

Jedoch dürfen auch die problematischen Seiten von TikTok nicht außer Acht gelassen werden. Vor allem die Frage nach der Entlohnung ist für Künstlerinnen und Künstler auf der Plattform wichtig. Dabei haben haben sich die Bedingungen seit den Anfangstagen der App deutlich verbessert:

Stand die Plattform noch 2019 in der Kritik, den Musiker/innen aufgrund nicht existenter Verträge prinzipiell gar nicht zu entlohnen, existieren inzwischen z.B. Vereinbarungen mit den drei Majors und der Lizenzierungsplattform ICE.

Eine Frage der Moral

Im Vergleich zu Streaming-Plattformen wie Spotify bietet TikTok keine Pro-Stream-Abrechnung. Stattdessen erfolgt die Bezahlung anhand der Anzahl der Videos, die das jeweilige Musikstück benutzen. 2019 lag die Bezahlung im Durchschnitt bei 0,030 Cent pro Video - wie auch bei den Streaming-DSPs nicht sehr hoch.

Hinsichtlich des finanziellen Aspekts kann TikTok also ebenso wie Spotify und andere nur ein Teil einer größeren Content-Strategie sein. Die Hoffnung, durch einen viralen Hit die eigene Popularität und damit die Merchandise- oder Live-Verkäufe zu erhöhen, könnte hier tatsächlich eher in Erfüllung gehen als der Plan, durch die Plattform allein genügend Geld zu verdienen.

Inwiefern sich Kunstschaffende mit diesem System abfinden oder sogar aktiv daran partizipieren möchten, ist letztendlich eine gewissermaßen persönliche (moralische) Entscheidung. Ähnliches gilt für die Bereitschaft, der App persönliche Daten anzuvertrauen. Ob die TikTok-App ein Datenschutz-Risiko darstellt, ist bisher nicht eindeutig geklärt

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