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"Erfolgreiche Bands sind mittelständische Unternehmen"

Studiochef Jerry Marotta (Peter Gabriel, Paul McCartney, Iggy Pop) über die aktuelle Entwicklung der Musikbranche

Interview von Michael Erle
veröffentlicht am 16.11.2021

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Studiochef Jerry Marotta (Peter Gabriel, Paul McCartney, Iggy Pop) über die aktuelle Entwicklung der Musikbranche

Jerry Marrotta in seinem Studio. © Privat

Jerry Marotta vom Dreamland-Studio in Woodstock spricht über den Wandel im Recording-Bereich und darüber, welche Veränderungen innerhalb der Musikbranche die Coronakrise verstärkt hat. An den verbliebenen Major-Labels lässt er dabei kaum ein gutes Haar.

Jerry Marotta kann auf fast 50 Jahre Erfahrung als professioneller Drummer zurückblicken und leitet mit den Dreamland Recording Studios in Woodstock (USA) ein Studio von Weltrang. Backstage PRO unterhielt sich mit ihm über die Entwicklung der Recording- und der Musikbranche sowie die Dreamland Woodstock Challenge, die er in Zusammenarbeit mit dem Münchner MUSOC Song Slam ausrichtet.

Backstage PRO: Wie haben Sie die letzten 18 Monate persönlich und geschäftlich überstanden?

Jerry Marotta: Fangen wir an mit den letzten 18 Jahren. Die Pandemie hat die Leute dazu gezwungen und etwas beschleunigt, was ohnehin unvermeidlich war. Die Musikindustrie war schon länger auf dem Weg in diese Richtung. Es gibt immer weniger Major-Labels. Die Majors finden Wege, die Tatsache zu verbergen, dass sie ein Major-Label sind, indem sie Namen haben, die nicht Sony und Warner Bros. heißen, sondern wie Wooden Nickle und dies und das. So läuft das heute.

Anstatt Künstler wie zum Beispiel Alex' Band [Alex Sebastian, Organisator der Dreamland Woodstock Challenge; Anm.d.Red.] – unter Vertrag zu nehmen und ihnen 200.000 bis 300.000 Dollar zu geben, mussten die Labels einen Weg finden, ihnen 20.000 bis 30.000 zu geben. Jetzt wollen sie einfach gar nichts mehr geben. Sie dagen: 'Macht nur, macht eure Platte, macht euer Ding. Wir werden es uns anhören und sehen, ob wir interessiert sind. Vielleicht machen wir einen 360-Deal mit euch.'

“Major-Labels haben aus Zitronen Limonade gemacht”

Backstage PRO: Welchen Nachteil sehen Sie darin?

Jerry Marotta: So ein Deal bedeutet im Grunde, dass sie dann alles 50/50 teilen. Das ganze Geld, das der Künstler verdient: Veröffentlichung, Merch, T-Shirts, was auch immer. So machen die Major-Labels trotzdem ihr Geschäft. Sie haben es tatsächlich geschafft, aus Zitronen Limonade zu machen.

Backstage PRO: Wie erging es Ihrem Studio in den letzten Monaten?

Jerry Marotta: In unserem Studio "Dreamland", einem großen etablierten Studio außerhalb von Woodstock, New York, haben wir schon früh in der Pandemie, so im März/April 2020, dicht gemacht. Obwohl wir als Aufnahmestudio unter dem Radar hätten fliegen können. Wir sind ja kein Unternehmen, in dem ständig Leute kommen und gehen. Aber wir haben den Betrieb eingestellt, weil wir sichergehen wollten, dass wir hier alle sicher sind.

Mitte Juni, als der Geschäftsbetrieb wieder aufgenommen werden konnte, begannen wir wieder mit den Sessions. Ich hätte nie erwartet, dass die Dinge so laufen würden, wie sie liefen. Es war unglaublich viel los. Die Künstler konnten nicht mehr rausgehen und auftreten. Die Leute fingen an, Dinge wie Livestreaming aus ihren Kellern und Proberäumen zu machen.

Backstage PRO: Daran haben Sie mitgewirkt? Wie war Ihre Erfahrung mit dem Thema Livestreaming?

Jerry Marotta: Ja, ich habe mich selbst an einer Reihe solcher Veranstaltungen beteiligt. Wir haben das auch mit anderen Künstlern gemacht, die ins Dreamland kamen, weil hier eine wunderschöne Umgebung dafür ist. Aber irgendwann kam der Punkt, an dem man sich fragen musste: Wie viele Streams kann man noch aus seinem Keller oder Proberaum machen? In der Zwischenzeit, glaube ich, haben die Leute auch wieder vermehrt Songs geschrieben. Sie konnten ja nichts anderes tun. Und im Herbst 2020 waren wir dann wie verrückt ausgebucht. Musiker tun, was sie tun – und sie passen sich der Situation an.

"Ich bin immer auf der Suche nach Möglichkeiten, neue Talente zu entdecken."

Backstage PRO: In der Hochzeit der Krise habt ihr die Dreamland Woodstock Challenge ins Leben gerufen. Warum?

Jerry Marotta: Als Vorreiter, die wir sind, haben wir diesen Hype ausgelöst, und jetzt ist er nicht mehr aufzuhalten (lacht)… Aber im Ernst: Woodstock lässt die Leute an Musik denken, und die Dreamland-Woodstock-Challenge schien eine gute Idee zu sein. Ich bin immer auf der Suche nach Möglichkeiten, neue Talente zu entdecken. Jetzt, wo die großen Labels miemanden mehr unter Vertrag nehmen, macht es einfach Spaß, nach Talenten zu suchen, die vielleicht früher einen Plattenvertrag bekommen hätten oder auch nicht. Bei der Challenge sind wir auf einige wirklich phänomenal talentierte Leute gestoßen.

Außerdem liebe ich den internationalen Aspekt, da ich so viele Jahre mit Peter Gabriel auf Tournee war und mit ihm zusammengearbeitet habe. Ich habe zahlreiche Tourneen in Europa und Deutschland absolviert. Ich weiß, dass Alex und ich das ähnlich sehen. In einer Zeit, in der es viel Konfrontation gibt, wollen wir unter anderem mehr Kooperation zwischen den Kulturschaffenden verschiedener Länder erreichen.

Backstage PRO: Gavin Harrion von The Pineapple Thief sagte kürzlich in einem Interview, dass Aufnahmen heutzutage in jedermanns Keller stattfinden und dass die einzigen Studios, die überleben können, die Großen sind, die Platz für ein ganzes Orchester haben. Sehen Sie das auch so?

Jerry Marotta: Ich weiß es nicht. Ich beobachte die anderen Studios nicht. Ich sage nur so viel: Wir haben viele Bands, die diese Keller-Sache gemacht haben, und die sagen dann: 'Das wollen wir nicht noch mal machen. Wir haben das gemacht und es ist scheiße.'

Klanglich wird Home-Recording zwar besser und besser. Und ich bin sicher, dass Gavin Harrison nicht wie die meisten von uns im Keller der Eltern arbeitet. Ich auch nicht – ich habe ein phänomenales Studio in meinem Keller. Hier arbeite ich die ganze Zeit. Es ist eben kein typisches Heimstudio. Es ist groß – es muss groß sein, weil ich ein Schlagzeuger bin. Tony Levin [Bassist für Peter Gabriel, King Crimson, hier im Interview; Anm.d.Red.] hat ein Studio in einem Raum in seinem Haus, wo er vor seinem Monitor sitzen kann und Bass-Spuren aufnimmt. Aber er nimmt dort keine Band auf.

"Ein Studio wie Dreamland hat Charisma. Als Künstler inspiriert es dich."

Backstage PRO: Sind Produktionen im großen Studio finanziell überhaupt noch machbar für die meisten Acts?

Jerry Marotta: Es gibt immer mehr Bands und Künstler, die sagen: 'Alles im großen Studio muss nicht sein, wir können sparen'. Sie kommen dann für fünf Tage ins Dreamland, nehmen die Grundspuren auf und gehen dann in das Heimstudio von jemand anderem, um Overdubs zu machen. Der Vorteil ist der: Ein Studio wie Dreamland hat Charisma. Als Künstler inspiriert es dich.

Wenn ich selbst recorde, habe ich immer noch einen weiteren Tontechniker dabei. Als Schlagzeuger möchte ich nicht mit einem iPad da sitzen. Das lenkt mich ab. Ich bin da ganz altmodisch. Außerdem, wenn ich keinen Tontechniker habe, wen soll ich dann anschreien? Nicht mich selbst! (lacht) Bands und Künstler profitieren sehr davon, in einen Raum zu kommen und mit Leuten wie mir zu arbeiten.

Backstage PRO: Sie sagten, dass es einen Trend gibt, der schon seit Jahrzehnten anhält. Das Geld, das Sie vor zehn Jahren verdient haben, woher kommt es heute?

Jerry Marotta: Die Künstler, jene ohne Plattenvertrag, besorgen sich das Geld auf verschiedene Art und Weise. Sie veranstalten beispielsweise eine Tour, bekommen das Geld zusammen, und dann wenden sie sich an uns. Sie sagen uns, was sie machen wollen und wie viel Geld sie haben. Und dann schauen wir, was geht. Ich versuche immer, nach Möglichkeit alle anzunehmen. Ironischerweise zahlen die meisten unsere volle Buchungsrate. Das ist nicht billig, aber man bekommt doppelt so viel Arbeit in der gleichen Zeit erledigt, weil alle vor Ort sind.

Backstage PRO: Wie sind diese Künstler ohne Vertrag so als Kunden?

Jerry Marotta: Es ist lustig. Ich habe einen Künstler im Studio, der gestern fertig geworden ist. Weil ich ein guter Kerl bin, habe ich ihre Festplatten nicht behalten. Anders als bei einem Major-Label – das ist ein Albtraum. Sie stellen die Hürden in den Weg: Wir bekommen nicht einmal eine Anzahlung. Und wir mussten uns als Verkäufer in ihr System einklinken. Das hat ein oder zwei Wochen gedauert – meine Buchhalterin hat sich die Haare gerauft. Es dauert 45 Tage, bis wir bezahlt werden. Ich hätte auch sagen können: 'Wir behalten die Festplatten'. Ohne die können sie nichts machen. So sind die großen Labels. Festgefahren in der Bürokratie. Aber die einzelnen Bands und Künstler, die haben Budgets: 30.000, 50.000, 80.000. Sie gehen auf Tournee, spielen und werden das Geld zehnfach zurückverdienen. Eben weil sie nicht bei einem Major-Label sind. Das beobachte ich.

Erfolgreiche Bands sind einfach zu einem mittelständischen Unternehmen geworden. Es gibt den Gitarristen und den Sänger, die das meiste schreiben, der Schlagzeuger kümmert sich um die sozialen Medien, der Bassist... weißt du, was ich meine?

"Künstler sind vorsichtig mit jedem Cent, den sie ausgeben"

Backstage PRO: Ihr Geld kommt also zunehmend von einzelnen Künstlern und nicht von großen Labels?

Jerry Marotta: Nun, der Einkommensstrom der Künstler wurde durch das fehlende Touren während der Pandemie geschmälert. Bei den alten Geschäftsmodellen hat ein Label, wenn es dich unter Vertrag genommen hat, Hunderttausende von Dollar versenkt. Wenn die Künstler selbst bezahlen, sind sie vorsichtig mit jedem Cent, den sie ausgeben.

Mich hat die Situation als Musiker selbst auch getroffen, und Leute wie Tony Levin, professionelle Musiker der Arbeiterklasse. Ich habe früher eine Menge Geld damit verdient, auf den Platten anderer Leute zu spielen. Ich flog die ganze Zeit nach England, nach LA, nach Italien. Das hat sich irgendwie geändert: Anstatt mich nach Italien zu fliegen, schicken mir die Leute die Wave-Dateien und ich nehme sie hier bei mir zu Hause auf, sehr kostengünstig.

Backstage PRO: Wenn man die nächsten Jahre betrachtet, wird es Dinge wie die Dreamland Woodstock Challenge weiterhin geben?

Jerry Marotta: Die kurze Antwort ist ja, wir setzen die Challenge fort. Die längere Antwort ist: Ich würde die Dreamland Woodstock Challenge gerne auf die ganze Welt ausdehnen, aber ich bin ein wenig ernüchtert. Ich dachte, es wären viel mehr Leute daran interessiert, die Teilnahmegebühr in Höhe von 50 € auszugeben. Das ist recht wenig. Aber es gibt viele Bands, die das nicht machen wollen. Ich weiß noch nicht, was das aussagt. Sind die Leute so pleite? Es geht um einen Preis von mehreren Tausend Euro, plus die Erfahrung, und es ist nicht wie im Lotto, wo die Chancen praktisch gleich Null sind. Die Teilnahme ist an sich ganz leicht. Alles was du brauchst steht in deinem Wohnzimmer. Was auch immer toll ist an dem, was du tust: es wird rüberkommen. Du musst nicht in ein Aufnahmestudio gehen oder ein Hochglanzvideo drehen.

Backstage PRO: Vielen Dank für Ihre Zeit und viel Erfolg mit der Dreamland Woodstock Challenge!

Unternehmen

Munich Song Connection

Veranstalter in 81667 München

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