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Klage gegen Online-Bibliothek

Sony und Universal verklagen Internet Archive wegen "massiver Verletzung" von Urheberrechten

Spezial/Schwerpunkt von Backstage PRO
veröffentlicht am 22.08.2023

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Sony und Universal verklagen Internet Archive wegen "massiver Verletzung" von Urheberrechten

Schellackplatten Schallplatten waren vor Erfindung der LP das gängige Medium für Audio-Aufnahmen. © Mick Haupt

Zahlreiche Labels, darunter Sony und Universal verklagen die Online-Datenbank Internet Archive, um das "Great 78 Project" zu stoppen, das Schellackplatten digitalisiert.

Ziel des "Great 78 Project" ist es, die mit 78 Umdrehungen pro Minute spielenden Schellack-Platten aus den 1890ern bis 1950ern zu sammeln und zu digitalisieren.

Schellack-Platten waren zwischen den 1920er-Jahren und der Einführung der Langspielplatte Ende der 1940er Jahre das gängige Medium für Tonaufnahmen. Sie wurden aus Schellack (Käferharz) hergestellt, sind sehr zerbrechlich und verfügen über eine Spielzeit von ca. drei Minuten.

Sammeln und Digitalisieren

Das Internet Archive erklärt, es lasse sich nicht vorhersagen, inwiefern die digitalen Versionen dieser 78er die physischen Exemplare überdauern werden. Aus diesem Grund bewahre das Internet Archive beides auf, um "das Überleben des kulturellen Materials für künftige Generationen zu sichern, die es studieren und genießen können".

Das Internet Archive bezeichnet sich als gemeinnützige Online-Bibliothek und hat es sich zum Ziel gesetzt, so viel menschliches Wissen wie möglich zu sammeln und zu digitalisieren. Im Rahmen des Great 78 Projects will das Internet Archive bis zu 3 Millionen Schellackplatten zu archivieren. Das Projekt hat bereits 400.000 Tonaufnahmen digitalisiert.

Um das Projekt fortzuführen, ruft das Internet Archive die Öffentlichkeit dazu auf, Schellackplatten zu "spenden", also dem Projekt dauerhaft zu überlassen. Von diesen gespendeten Schellackplatten werden dann digitale Kopien hergestellt, die auf der Seite des Internet Archives heruntergeladen oder gestreamt werden können.

Die Plattenindustrie klagt

Doch dieses Projekt steht nun in Frage. Eine Gruppe großer Plattenfirmen, darunter Sony, Universal, Capitol, Artista, Concord und weitere haben kürzlich eine Urheberrechtsklage gegen das Internet Archive, seinen Gründer Brewster Kahle und andere Projektbeteiligte eingereicht [Link zum PDF].

Die Plattenfirmen argumentieren in ihrer Klage, dass das "Great 78 Project" massiv gegen US-amerikanische Copyright-Gesetze verstößt. 

Die Klage führt 2.749 Musikwerke von verstorbenen Künstlern, darunter Frank Sinatra, Ella Fitzgerald, Duke Ellington, Chuck Berry, Billie Holiday, Louis Armstrong und Bing Crosby auf, die über das Internet Archive erhältlich sind [Link zum PDF]. Dazu erklärt die Klageschrift: 

"Durch die Übertragung von Kopien dieser Dateien an Mitglieder der Öffentlichkeit hat Internet Archive die geschützten Tonaufnahmen der Kläger ohne Genehmigung vervielfältigt und verbreitet".

Die Klage beschuldigt das Internet Archive weiterhin der systematischen Geringschätzung des Copyrights sowie der Rechte der Labels und der Künstler.

Teure Forderungen

Die Beschwerde fügt hinzu: "Die Beklagten können ihre Aktivitäten auch nicht damit rechtfertigen, dass sie notwendig sind, um historische Aufnahmen zu erhalten. Alle Tonaufnahmen aus der Zeit vor 1972 sind bereits zum Streaming oder Herunterladen bei zahlreichen von den Klägern autorisierten Diensten verfügbar. Es besteht keine Gefahr, dass diese Aufnahmen verloren gehen, vergessen oder zerstört werden."

Die Labels streben mit der Klage eine einstweilige Verfügung an, um das Internet Archive an der Fortführung seines Projekts zu hindern. Außerdem fordern die Labels Schadensersatz für jeden einzelnen Copyright-Verstoß, der nach US-Bundesrecht bis zu 150.000 Dollar pro Verstoß betragen kann oder andernfalls "die Gewinne der Beklagten aus der Rechtsverletzung in einer Höhe, die im Prozess nachzuweisen ist". 

Internet Archive verteidigt sich

"Während wir die Klage prüfen, bleiben wir unserer Mission treu", erklärte die Online-Bibliothek in einem Statement. Auch der ebenfalls verklagte Gründer Brewster Kahle reagiert:

"Wenn die Leute Musik hören wollen, gehen sie zu Spotify. Wenn die Leute 78rpm-Tonaufnahmen so studieren wollen, wie sie ursprünglich entstanden sind, gehen sie zu Bibliotheken wie dem Internet Archive. Beide werden gebraucht. Es sollte hier keinen Konflikt geben."

Nicht die erste Klage

Internet Archive wurde schon von mehreren großen Buchverlagen verklagt, weil sie digitale Kopien von urheberrechtlich geschützten Büchern eingescannt und verliehen hatten (ein Richter entschied im März zugunsten der Verlage, wie NPR berichtete). Internet Archive plant, gegen die Entscheidung Berufung einzulegen.

Am 11. August hatte Kahle Kritik an diesen Projekten zurückgewiesen, sie mit Buchverboten verglichen und die Bedeutung von Bibliotheken für die Demokratie betont: 

"Bibliotheken werden heute in einem noch nie dagewesenen Ausmaß angegriffen, von Buchverboten über die Streichung von Mitteln bis hin zu übereifrigen Klagen wie der gegen unsere Bibliothek. Diese Bemühungen begrenzen den Zugang der Öffentlichkeit zur Wahrheit zu einem entscheidenden Zeitpunkt in unserer Demokratie. Wir brauchen starke Bibliotheken und deshalb legen wir gegen diese Vorwürfe und Entscheidungen Berufung ein".

Klare Sache?

Die bösen Labels gegen die guten, uneigennützigen Bewahrer alles Guten und Schönen? Das könnte man denken, doch die Angelegenheit ist weitaus komplizierter.

Beim Betrachten der Seite des Great 78 Project fällt auf, dass die Startseite keine obskuren, sondern bis zum heutigen Tag populäre Stücke weltbekannter Künstler enthält. Das entkräftet ein wenig das Argument des Internet Archives, das Projekt verfolge lediglich das Ziel, Schellackplatten zu sammeln und zu bewahren. 

Die Klage stellt diesbezüglich auch klar, dass das Internet Archive nie einen Antrag beim US-Copyright Office auf gemeinnützige Nutzung gestellt habe. Das wäre nach dem Music Modernization Act von 2019 beispielsweise möglich, wenn die durch das Great 78 Project durchgeführten Digitalisierungen Musik beträfen, die nicht kommerziell erhältlich ist. 

In Wirklichkeit erschienen nach Auskunft des Internet Archives 80 Prozent der vom Great 78 Project digitalisierten Platten auf den (damaligen) fünf großen Labels Decca, Columbia, Victor, RCA Victor, and Capitol. Sicherlich sind nicht alle dieser Musikstücke kommerziell erhältlich, aber vermutlich die Mehrheit.

Die Kehrseite der Medaille

Allerdings ist die Argumentation der Plattenfirmen auch nicht ganz sattelfest. Beispielsweise ist die Aussage, es bestehe keine Gefahr, dass Schellack-Aufnahmen "verloren gehen, vergessen oder zerstört werden" so nicht haltbar.

Diese Gefahr besteht schon deshalb, weil Schellackplatten sehr empfindlich sind und weil immer weniger Menschen einen zum Abspielen von Schellackplatten geeigneten Plattenspieler besitzen. Das Wissen über Schellackplatten geht daher zunehmend verloren.

Daher führen auch andere Institutionen Projekte durch, um Schellackplatten für die Nachwelt zu erhalten. Dazu zählt die Library of Congress, die größte Bibliothek der Welt in Washington D.C. mit ihrem "The National Jukebox"-Projekt. Im Zuge dieses Projekts sind aber gerade einmal 10.000 Schellackplatten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden.

Obskure Aufnahmen

Es ist fraglos korrekt, dass die Aufnahmen wirklich bekannter Künstler nicht in der Gefahr sind, verloren zu gehen. Neben Schellackplatten, die in Millionenauflagen vorhanden sind bzw. waren, existieren aber auch extrem seltene Aufnahmen. 

Hinzu kommt, dass die Master der Schellackplatten, die sog. metal parts während des 2. Weltkriegs in vielen Fällen eingeschmolzen wurden, weil sie das kriegswichtige Aluminium enthielten. Viele Aufnahmen existieren daher nur in Form der noch existierenden Platten.

Auch handelten die Labels zur Bewahrung ihrer historischen Aufnahmen keineswegs immer vorbildlich. Die Geschichte der Popmusik ist voll von Geschichten, in denen Labels durch Fahrlässigkeit oder gar Absicht in ihren Archiven lagernde Tonaufnahmen vernichteten oder durch Vernachlässigung ruinierten.

US-Copyright wird stetig verlängert

Ironischerweise wäre das Great 78 Project unter EU-Recht kein Problem, weil das Leistungsschutzrecht an Tonaufnahmen innerhalb der EU nur 70 Jahre beträgt. 1953 wurden aber kaum noch Schellackplatten hergestellt.

In den USA wurde das Copyright an Tonaufnahmen in den letzten Jahrzehnten hingegen stetig verlängert, so dass aktuell Tonaufnahmen, die vor 1946 entstanden sind, 100 Jahre geschützt sind,  zwischen 1947 und 1956 entstandene Aufnahmen sogar 110 Jahre.

Zwischen 1957 und 1972 entstandene Tonaufnahmen verlieren erst 2067 ihren Urheberrechtsschutz. (1972 trat ein neues US-Copyright-Gesetz in Kraft).

Internet Archive vs. US-Congress

Ob diese stetigen Verlängerungen sinnvoll sind, ist eine Frage, die man kontrovers diskutieren kann. Schließlich sind die an den ursprünglichen Aufnahmen beteiligten Künstler längst verstorben – nicht aber die Labels, die nach wie vor von den dadurch erzielten Einnahmen profitieren.

Ob das Internet Archive sich in diesem Streit behaupten kann, wird auch davon abhängen, ob es nachweisen kann, dass die Nutzung älterer Tonaufnahmen tatsächlich gemeinnützig ist. Die beste Lösung wäre aber eine Einigung zwischen Labels und Internet Archive, da das weit fortgeschrittene Projekt sicherlich eine Bereicherung der Musikwelt darstellt.

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