×

Live-Business in der Krise?

Psychische und wirtschaftliche Krisen durch Corona: Darum sagen noch immer viele Musiker und Bands ihre Touren ab

Spezial/Schwerpunkt von Florian Endres
veröffentlicht am 14.10.2022

liveszene clubszene musikbusiness coronakrise gesundheit berufswelt

Psychische und wirtschaftliche Krisen durch Corona: Darum sagen noch immer viele Musiker und Bands ihre Touren ab

Santigold. © Warner Music

Aktuell sagen zahlreiche Musikerinnen und Musiker, von Sam Fender über Animal Collective bis Santigold, ihre Touren ab. Als Gründe geben sie die schwierigen finanziellen Bedingungen des Tourens an – und verweisen in vielen Fällen auch auf die damit einhergehende psychische Belastung. Was steckt dahinter?

Eigentlich sollte die Indie-Band Animal Collective im November 2022 auf Tour durch Europa und das Vereinigte Königreich gehen. Jetzt hat das Quartett diese Tour wenige Wochen vor Auftakt aufgrund der derzeitigen "wirtschaftlichen Realität" vollständig abgesagt. In einem Instagram-Beitrag erklärt die Band ihre Entscheidung:

Wirtschaftliche Realitäten

In ihrem Post schreibt die Band, dass sie es sich unter den aktuellen Umständen schlicht nicht leisten könne, auf Tour zu gehen. Das Quartett habe bereits herbe Einnahmeeinbußen hinnehmen müssen, da es aufgrund der Corona-Erkrankung dreier Mitglieder mehrere Konzerte absagen musste. Dabei seien die Musiker auf diese Einnahmen angewiesen, um ihre Familien ernähren zu können.

Trotz dieser Widrigkeiten habe die Band versucht, ihre EU/UK-Tour zu planen und durchzuführen. Doch die aktuelle Wirtschaftslage mache es unmöglich, die Tour ohne weitere finanzielle Verluste durchzuführen, weshalb die Musiker keine andere Möglichkeit sehen, als sie komplett abzusagen. 

Eine lange Liste

Die u.a. mit dem NME- und dem ASCAP-Award ausgezeichnete Musikerin Santigold legt in einem Statement zur Absage ihrer Nordamerika-Tour ausführlich die auch von Animal Collective angeführten Gründe dar, die den aktuellen Live-Betrieb derart erschweren.

Santigold schreibt, dass nach der COVID-bedingten Zwangspause fast alle Musikerinnen und Musiker versucht hätten, so schnell wie möglich wieder "on the road" zu gehen. Doch die Wirklichkeit, mit der sie sich konfrontiert sahen, sei eine andere als vor der Pandemie gewesen:

Die Preise für Benzin, für Tourbusse und Hotels und letztlich auch für Flüge seien gestiegen, während die hohe Nachfrage nach Venues es oftmals unmöglich machte, überhaupt eine Show zu buchen. Und auch sie thematisiert die hohen Kosten, die einzelne Konzert-Absagen aufgrund einer Corona-Infektion von Künstler/in oder Crew mit sich brächten. 

Die neue Normalität?

Gleichzeitig, so ergänzt die pakistanischstämmige Musikerin Arroj Aftab in einem Tweet, würden die Gagen für Musikschaffende nicht signifikant erhöht – aus dem simplen Grund, dass sich Veranstaltende im Hinblick auf die oft unterdurchschnittlichen Vorverkäufe nicht trauten, die Ticketpreise zu erhöhen, um nicht noch mehr potentielle Gäste zu vergraulen. 

Aftab spricht in ihrem Tweet ungewöhnlich offen über den (Miss-)Erfolg ihrer gerade beendeten Tour: Obwohl sie und ihre Band Headliner-Shows mit hohen Besucherzahlen gespielt haben, sehen Aftab und Band sich nun mit mehreren zehntausend Dollar Schulden konfrontiert:

Weiter führt sie aus, dass ihr gesagt würde, dass dieses Missverhältnis normal sei – dass es normal sei, verschuldet von der Tour zurückzukommen. Eine Aussage, mit der Aftab nicht zufrieden ist: "Dieser Trend sollte nicht normalisiert werden."

Im Westen nichts Neues

Freilich sind die Auswirkungen der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen per se keine Neuigkeit: Bereits vor mehreren Monaten berichteten wir über Festivalabsagen, über schleppende Ticketverkäufe und die Probleme, die die inflationsbedingten, massiven Kostensteigerungen für Veranstaltende bedeuten

In diesem Zuge verwiesen wir immer auch auf das Missverhältnis zwischen Mega-Events und kleinen Clubkonzerten. Während sich Stadionkonzerte von Stars und Massenfestivals wie Rock am Ring ungebrochener Beliebtheit erfreuen, litten bisher in erster Linie kleinere Konzerte unter den niedrigen Absatzzahlen. Und genau hier liegt das beunruhigende Element der sich häufenden Tour-Absagen:

Weder bei Animal Collective, noch bei Santigold, noch bei vielen anderen Bands, die ihre Tourneen annullieren mussten – wie die Thrash-Urgesteine Anthrax oder die Industrial Metal-Legenden Ministry – handelt es sich um "kleine" Bands. Zwar befinden sich diese Acts nicht unbedingt auf Superstar-Niveau, doch sind es – wie Music Ally über Animal Collective schreibt – Acts, 

"von denen viele Leute leichtfertig annehmen würden, dass sie ihr Geld heutzutage eher mit Tourneen als mit Streaming-Tantiemen verdienen können."

Eine Frage des Geistes

Auffällig an den Posts von Animal Collective und Santigold ist, dass beide die finanziellen und logistischen Probleme des Tourens in einer Post-COVID-Realität in ein enges Verhältnis mit ihrer psychischen Verfassung rücken. So heißt es bei Animal Collective, eine Tour unter den aktuellen Umständen würde nicht nur ihre wirtschaftliche Existenz, sondern auch ihre geistige Gesundheit negativ beeinflussen.

Santigold hingegen schreibt, dass sie mit dem Wegfall der COVID-Restriktionen, wie viele andere Acts auch, permanent Konzerte gespielt habe, um die Einnahmeeinbußen der Pandemie zu kompensieren. Doch halte sie langfristig dem unnachgiebigen Druck der Branche nicht mehr stand und brauche nun erst einmal Zeit, um sich auf sich selbst zu konzentrieren.

Kein Einzelfall

Animal Collective und Santigold sind dabei keine Einzelfälle: Allein in den vergangenen Monaten sagten Acts wie Arlo Parks und Sam Fender, Yard Act, Wet Leg, Disclosure und Shawn Mendes ihre Touren aufgrund von Mental Health-Problemen ab.

Wie der Guardian schreibt, benennen dabei viele dieser Künstlerinnen und Künstler bzw. Bands – wie auch Santigold – den Druck, auftreten zu müssen, als besonders schädlich für ihre geistige Gesundheit: Die vollgestopften Tourpläne und der Mangel an Pausen waren beispielsweise für Arlo Parks und Sam Fender einer der Gründe, die zur Tourabsage führten.

Ein neuer Trend

Die Häufung von Tourabsagen vor dem Hintergrund der geistigen Gesundheit ist dabei gleich in zweierlei Hinsicht ein Novum in der Musikbranche: Auf der einen Seite zeigt es, dass Künstlerinnen und Künstler beginnen, die eigene Gesundheit vor ihren Erfolg zu stellen – denn keinem der Betroffenen dürfte die Absage wirklich leicht gefallen sein. James Smith von der Band Yard Act beschreibt diesen Zwiespalt gegenüber dem Guardian:

"Diese Gelegenheiten, große Shows zu spielen, sind rar für aufstrebende Bands wie Yard Act. Niemand schuldet dir diese Slots und du kannst sie ablehnen – aber wenn sich diese Gelegenheiten nicht wieder ergeben, ist das deine Schuld."

Darüber hinaus spielen natürlich auch wirtschaftliche Bedenken eine Rolle bei der Absage von Touren. Traditionell sind Touren ein einträgliches Geschäft für Musikschaffende – daher auch der während der Pandemie so virulente Diskurs über die Auszahlungspraktiken der Streamingdienste.

Catch-22

Ohne die Einnahmen aus dem Live-Bereich, so die Argumentation während Corona, gerade im Hinblick auf die geringen Ausschüttungen von Spotify und Co. nicht überleben. Daher auch die überstürzte Rückkehr auf die Bühnen nach der Pandemie – und die Frage, ob eine Tourabsage aufgrund der geistigen Gesundheit auch finanziell zu stemmen ist. 

Doch zeigt die Post-COVID-Realität nun, dass selbst das Touring nun keine sichere Einnahmequelle mehr darstellt: Wer, wie Arooj Aftab, das Risiko wagt, muss damit rechnen, die Tour hoch verschuldet zu beenden. Wer seine Tour hingegen absagt, um kein Risiko einzugehen, stellt sich damit gänzlich in die Abhängigkeit von Streaming-Einnahmen, Merch- und Albumverkäufen. 

Im Hinblick auf diese fast schon absurd anmutende Situation – Verschuldung vs. Einnahmeausfall – ist es wiederum umso verständlicher, wieso immer mehr Musiker/innen das Gefühl haben, in einem Hamsterrad gefangen zu sein, wieso diese Musiker/innen überhaupt vermehrt mit psychischen Problemen zu kämpfen haben und wieso sie schließlich entgegen finanzieller Bedenken handeln und ihre Tour absagen, um sich auf sich selbst zu konzentrieren. 

Wie soll es weitergehen?

Eine einfache Lösung für die angerissenen Probleme gibt es nicht. Die derzeitige Situation lässt sich nicht durch einige wenige Maßnahmen beseitigen, da es sich hier um eine Kumulation von jahrelang bestehenden Missständen in der Musikindustrie handelt, die durch Pandemie und Energiekrise nur noch verschlimmert werden.

Es ist eine Tatsache, dass das etablierte System Musiker/innen systematisch etwa durch die (zu) hohe Beteiligung von Labels an Streaming-Einnahmen oder oft unfaire Vertragsmodelle benachteiligt. Diese strukturellen Probleme lassen sich nicht von jetzt auf gleich beseitigen, sondern erfordern weitreichende Reformen und Visionen, wie eine faire Musikwirtschaft überhaupt zu denken ist.

Bis dahin liegt die einzige Möglichkeit, Künstlerinnen und Künstler zu unterstützen darin, dass Musikhörer/innen der Musik, die sie hören, wieder mehr Wert zuschreiben, und ihre favorisierten Künstler/innen im Rahmen ihrer Möglichkeiten durch Merch- oder Alben-Käufe, durch Konzertbesuche oder Bandcamp-Downloads tatsächlich unterstützen – statt Musik kostenlos als Massenware zu konsumieren.

Mehr Offenheit wagen

Wo Corona auf der einen Seite wie ein Brennglas die Probleme der Branche verstärkt hat, gibt es – neben den sich häufenden Tourabsagen als Symptom des belastenden Branchenklimas – auch einen positiven Trend zu beobachten: So hätte dieser Artikel hätte nicht geschrieben werden können, wenn es nicht zahlreiche Musikerinnen und Musiker gäbe, die ihre Reichweite nutzten, um einen Blick hinter die Kulissen zu gewähren.

Die Umstände, und auch die Probleme, des Tourens sowie die damit einhergehenden Belastungen waren noch vor wenigen Jahren etwas, worüber weitestgehend Stillschweigen bewahrt wurde. Erst seit kurzem scheint sich eine neue Offenheit zu entwickeln, was diese Dinge angeht - ein Bewusstsein, was auch die Musiker/innen selbst für notwendig erachten.

Dies zeigt sich schon in den Reaktionen auf den zitierten Post von Santigold: Zahlreiche bekannte Musikerinnen, darunter Shirley Manson (Garbage), Peaches, Kathleen Hanna (Bikini Kill), Cat Power, Lily Allen oder Lykke Li geben nicht nur zu, dass auch sie sich bei ihren Touren mit den angesprochenen Problemen konfrontiert fühlen, sondern gratulieren der Musikerin vornehmlich auch dazu, sich überhaupt derart detailliert an die Öffentlichkeit gewandt zu haben.

Die Reaktionen stehen sinnbildlich für einen Wandel im Sprechen über geistige Gesundheit, der in der Pandemie begonnen hat: Künstlerinnen und Künstler reden nicht nur zunehmend offener über ihre Probleme, sondern auch über die Bedingungen, die diese Probleme begünstigen oder sogar hervorrufen – sprich, über die Bedingungen innerhalb der Musikindustrie.

Ähnliche Themen

UK-Umfrage: Jugendliche nutzen Musik und Songtexte als therapeutisches Mittel

Bewältigung von Krisenzeiten

UK-Umfrage: Jugendliche nutzen Musik und Songtexte als therapeutisches Mittel

veröffentlicht am 05.12.2023

Über 200 Prozent: USA wollen Visa-Kosten für Musiker/innen aus dem Ausland erhöhen

Große Herausforderung für internationale Tourneen

Über 200 Prozent: USA wollen Visa-Kosten für Musiker/innen aus dem Ausland erhöhen

veröffentlicht am 14.03.2023   2

Mit Optimismus voran: Das erwartet ihr beruflich von 2023

Ein Schritt nach vorne

Mit Optimismus voran: Das erwartet ihr beruflich von 2023

veröffentlicht am 10.02.2023

Newsletter

Abonniere den Backstage PRO-Newsletter und bleibe zu diesem und anderen Themen auf dem Laufenden!