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Ein notwendiger Diskurs

Zwischen Promo und Burnout: Wie Social Media-Marketing die geistige Gesundheit von Popstars beeinflusst

Spezial/Schwerpunkt von Florian Endres
veröffentlicht am 19.08.2022

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Zwischen Promo und Burnout: Wie Social Media-Marketing die geistige Gesundheit von Popstars beeinflusst

Kritisieren den Zwang zur Social Media-Promotion: FKA Twigs, Halsey und Charli XCX (v.l.n.r). © v.l.n.r: Orograph / Aidan Cullen / WMG

Musikerinnen und Musiker wie Halsey, FKA Twigs, Florence Welch oder Ed Sheeran üben öffentlich Kritik daran, dass Labels sie zu einer starken Social Media-Präsenz zwingen. Was sind die Folgen dieser neuen Marketing-Strategie(n) – für die Künstler/innen wie für die Industrie?

Die US-amerikanische Musikerin Halsey stieß mit einem provokanten TikTok jüngst eine Debatte über die Prävalenz des Social Media-Marketings an. In dem TikTok behauptete Halsey, dass ihr Label ihr verbiete, einen neuen Song zu veröffentlichen, bis sie es schaffe, einen "viralen Moment" zu kreieren – einen Moment erhöhter Social Media-Aufmerksamkeit.

@halsey

I’m tired

♬ original sound - Halsey

Mediales Echo

Mit diesem TikTok sorgte Halsey für ein gewaltiges mediales Echo: Nachrichtenmedien wie der Guardian begannen vom Social Media-Burnout, also dem Gefühl der Erschöpfung durch die übermäßige Verwendung von sozialen Medien, zu sprechen.

Gleichzeitig meldeten sich auch andere größere Musikerinnen und Musiker kritisch zu den Zwängen ihrer Labels im Hinblick auf Social Media-Promotion zu Wort. Die britische RnB-Musikerin FKA Twigs erklärte in einem mittlerweile wieder gelöschten TikTok, dass ihr Label sie gerügt habe, nicht genug Einsatz für ihre TikTok-Präsenz gezeigt zu haben:

"Es stimmt. Die Labels fragen nur noch nach TikToks, und ich wurde heute gerügt weil ich mir nicht genügend Mühe gegeben haben soll."

Auch Florence Welch (Florence and The Machine) gibt an, dass ihr Label sie immer stärker unter Druck setze, TikToks zu erstellen, um “virale Momente” zu erzeugen. Die Popmusikerin Charli XCX hatte bereits 2021, ebenfalls in einem TikTok, Kritik geübt.

Auf dem aufsteigenden Ast

Die hier zitierten Aussagen bekannter aktueller Popstars zeigen deutlich, welche enorme Bedeutung soziale Medien, insbesondere eben TikTok, für die Promotion haben – und in welchem Maße Aktivität auf den sozialen Medien daher auch von den entsprechenden Labels gefordert wird.

Das ist insofern verwunderlich, als TikTok in seinen Anfangstagen aufgrund seiner laxen Lizenzierungspraktiken gerade von Seiten der Majors harsch kritisiert wurde. Doch das rasante Wachstum von TikTok zu ignorieren ist inzwischen unmöglich geworden: So soll die Plattform bis Ende 2022 zum drittgrößten sozialen Netzwerk hinter Facebook und Instagram werden.

Die Zahl der monatlich aktiven Nutzerinnen und Nutzer (MAU) soll in diesem Zeitraum auf 755,0 Millionen ansteigen – 2021 stieg die Zahl der MAU um 40,8 Prozent an, 2020 sogar um 59,8 Prozent.

Leben für den viralen Moment

Wichtiger als die ungebrochen steigende Popularität von TikTok ist jedoch sicherlich die sogenannte “For You Page”, bzw. letztendlich der Algorithmus, nach dem den Nutzerinnen und Nutzern Inhalte empfohlen werden.

Dieser ermöglicht es (zumindest aktuell) wie kein zweiter, die bereits erwähnten viralen Momente zu erzeugen – also jene Momente, die zuletzt dafür sorgten, alte Songs mit einem Mal wieder in populär zu machen oder bis dato völlig unbekannten Indie-Künstler/innen zum Durchbruch zu verhelfen, indem er den Usern entsprechende Inhalte ganz nach deren persönlichem Geschmack empfiehlt. 

Trends, die alte Musik wieder populär machen, werden meist von User-Content getrieben, womit Labels hier in erster Linie dann profitieren können, wenn sie den entsprechenden Artist bereits unter Vertrag haben – oder sich die Katalogrechte gesichert haben. Bei aufstrebenden neuen Musiker/innen bietet sich immer noch die Möglichkeit, diese neu unter Vertrag zu nehmen.

Authentizität als Strategie

Im Hinblick auf bereits bekannte Stars – wie etwa die bereits erwähnten Charli XCX, FKA Twigs oder Florence Welch – ist die Strategie, die Labels verfolgen, eine andere. Natürlich ist auch hier die Intention, mittels viralem Moment im besten Fall ein Spotlight auf den Star, eine neue Single oder ein ganzes Album zu richten.

Der Schlüssel ist hier jedoch, dass die Künstlerinnen und Künstler sich als authentisch inszenieren, dass sie intime Einblicke in ihren Urlaub, ihr Zuhause, oder auch in den Dreh eines Musikvideos oder die Produktion eines Songs bzw. Albums geben. Diese Authentizität wird durch TikTok als Plattform mit einer eigenen Ästhetik nur verstärkt – wirken die Videos doch oft, als seien sie spontan entstanden.

Authentizität bei gleichzeitig hoher Reichweite sind also die Vorteile, die soziale Netzwerke wie TikTok und, in geringerem Maße auch Instagram, haben, und die Labels sich via Künstler/innen zunutze machen (wollen).

Kann Marketing echt sein?

Natürlich bedeutet diese Strategie eine Verkehrung der Kategorien von Authentizität und Marketing: Das Versprechen einer Echtheit, das nicht zuletzt durch das soziale Medium selbst gestiftet wird, wird durch den rigiden Marketing-Plan untergraben, in dessen Rahmen solche Videos erst produziert werden.

Das Beispiel Halsey demonstriert dies recht deutlich: So wurden schon nach der Veröffentlichung ihres TikToks, in dem sie ihr Label kritisiert, Stimmen laut, die behaupteten, dass dieses Video selbst der virale Moment sein sollte, durch den sie dann ihren Song veröffentlichen "darf". Und tatsächlich konnte sie "So Good" gut zwei Wochen nach ihrer initialen Kritik veröffentlichen:

Eine Kolumne des britischen Guardian zeichnet die Geschichte nach – und kommt zu dem Schluss, dass die Allianz von Echtheit und Marketing eine Entwicklung ist, der es kritisch gegenüberzustehen gilt:

"Am wichtigsten ist es nach wie vor, dass Fans Künstlerinnen und Künstlern vertrauen können. Mit der Aussage "Mein Label hat mich dazu gezwungen" wird aus TikTok eine groteske Meta-Strategie, viral zu gehen – und wir finden uns plötzlich weiter entfernt von jedweder Form von 'authentischer' Kunst als je zuvor."

Terminally online

Diese Marketing-Strategie führt jedoch nicht nur den Begriff der Authentizität – bzw. die Möglichkeit, dass ein Star sich als authentisch präsentieren kann – ad absurdum, sondern bedingt gleichzeitig auch einen Paradigmenwechsel, da es zu einem Verschwimmen der Grenze zwischen Künstlerin bzw. Künstler und Content-Creator führt.

Dies hat wiederum zur Folge, dass sich die Musiker/innen – statt ihre Kunst zu produzieren – aufgrund der Wünsche ihres Labels dem Modus Operandi der sozialen Medien beugen und Content nach deren Wünschen produzieren müssen. Das bedingt wiederum, zumindest im Hinblick auf TikTok und auch Instagram, das Einhalten eines rigorosen Posting-Planes: TikTok selbst empfiehlt den Creators, mehrmals täglich zu posten, um eine hohe Sichtbarkeit beizubehalten.

Auf der einen Seite bedeutet das, dass Künstlerinnen und Künstler bedeutend weniger Zeit haben, sich etwa um das Schreiben neuer Musik zu kümmern, da sie mehrmals am Tag Zeit in die (durchaus aufwändige) Herstellung von (spontan wirkenden) Kurzvideos investieren. Ansonsten müssen sie, wie von FKA Twigs angemerkt, mit einer Rüge seitens der Label-Verantwortlichen rechnen.

Burnout

Auf der anderen Seite ist natürlich dieser Zwang zum Posten ein Faktor, der den Social Media-Burnout deutlich beschleunigt – ist der Hauptauslöser dieser Form von Burnout doch das außer Kontrolle geraten der auf bzw. mit sozialen Medien verbrachten Zeit.

Daher kündigte etwa der britische Superstar Ed Sheeran bereits mehrfach Social Media-Auszeiten an: Er gab an, mehr Zeit offline verbringen zu wollen, um Dinge zu erleben und so wieder etwas zu haben, über das er überhaupt schreiben könne:

Flucht aus dem Internet

Hier fließt auch noch ein anderer Punkt ein: Artists, die ständig Inhalte via TikTok oder Instagram teilen müssen, müssen sich damit gleichzeitig auch negativer Kritik, Anfeindungen und Beleidigungen in Form von User-Kommentaren aussetzen.

Dies führte u.a. dazu, dass Charli XCX ihren (kurzzeitigen) Rückzug von den sozialen Medien bekannt gab: die Reaktionen auf eine neue Single, mit der sie ihren Sound und ihr Image in eine andere Richtung führen wollte, waren so negativ, dass sie angab, diesen Druck nicht mehr auszuhalten und 

Fazit

Ganz abgesehen davon, wie die noch immer steigende Popularität (und Nutzungsdauer) von sozialen Medien insgesamt zu bewerten ist: Die sich wandelnden Mechanismen des Online-Marketings haben wohl unzweifelhaft das Potential, Künstlerinnen und Künstlern nachhaltig zu schaden.

Wenngleich Medien wie TikTok oder Instagram unbekannteren Musikerinnen und Musikern selbstverständlich einfache, wirkungsvolle und vor allem kostenlose bzw. kostengünstige Mittel zur Eigenwerbung an die Hand geben, können die Algorithmen, die das Funktionieren dieser Werbemittel sichern, gleichzeitig zu einer Überforderung der Künstler/innen führen, die gezwungen sind, ihre Relevanz in diesen Medien zu sichern.

Abhilfe schaffen kann hier – neben dem radikalen Schritt, die Social Media-Präsenz gleich komplett zu löschen – wohl einzig eine Annäherung von Label und Artist, von Promo-Plan und den Bedürfnissen und Möglichkeiten der Künstlerin bzw. des Künstlers.

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