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Post-Lockdown Optimismus

Trotz Warnsignalen: Studien zeichnen hoffnungsvolle Zukunft der Livemusik-Szene

Spezial/Schwerpunkt von Antonia Freienstein
veröffentlicht am 01.08.2023

liveszene ticketing musikbusiness

Trotz Warnsignalen: Studien zeichnen hoffnungsvolle Zukunft der Livemusik-Szene

© Josh Sorenson via pexels.com

Die Livemusik-Branche hat in den letzten Jahren stark unter der Corona-Pandemie gelitten. Abgesagte Konzerte, Tourneen und Festivals schwächten den gesamten Sektor und trafen viele Künstler/innen hart. Zwei neue Studien sehen jedoch eine rosige Zukunft des Sektors. Welche Gründe sind Anlass für diesen Optimismus? Und ist er berechtigt?

Zwei Studien, eine Datenanalyse des ehemaligen Chefökonoms von Spotify und der Performing Right Society (PRS) Will Page sowie eine gemeinsam von Bandsintown und Midia Research durchgeführte Umfrage, werfen einen Blick auf die jüngsten Entwicklungen in der Livemusik-Branche.

Die in Kooperation zwischen Bandsintown und Midia Research veröffentlichte Studie mit dem Titel "Return to live. Post-pandemic music fans" basiert auf einer Umfrage unter insgesamt 2.691 US-amerikanischen sowie britischen Live-Musikfans.

Die im Online-Magazin Music Business Worldwide erschienene Analyse von Will Page beruht auf Datensätzen der PRS for Musik, einem britischen Urheberrechtskollektiv für Musik, sowie auf den Tonträger bezogenen Daten der Entertainment Retailers’ Assoziationen und der British Phonographic Industry.

Rekordzahlen im Tonträgerbereich

Page beginnt seine Analyse mit einem Thema, das auf den ersten Blick gar nichts mit dem Live-Sektor zu tun hat. Aus den Daten der Entertainment Retailers Association habe sich ergeben, dass die UK-weiten Ausgaben für Tonträger im Jahr 2022 die 2-Milliarden-Pfund Grenze überschritten hätten. 

Dies führt Page auf die während der Pandemie stark gestiegene Anzahl an Streaming-Abonnements zurück. Außerdem hebt er den nicht unerheblichen Umsatz durch die Verkäufe von Schallplatten hervor. Vinyl-Verkäufe seien inzwischen zur zweitgrößten Einnahmequelle im Tonträgerbereich aufgestiegen.

Recorded Music und die Liveszene

Was aber hat das mit Tourneen zu tun? Page verweist auf Entwicklungen seit 2014, als die britische Bevölkerung gerade damit begann, für Abonnementdienste zu zahlen und die Einnahmen im Streaming-Sektor zu wachsen begannen. Zum gleichen Zeitpunkt sei ein Anstieg von Konzertbesuchen beobachtbar gewesen. 

Page betont die Notwendigkeit für die gesamte Musikbranche, die Beziehung zwischen Entdeckungen über Streamingdienste und Konzertbesuchen besser zu verstehen. 

Das Konzert im Wandel

Diesem Anliegen schließt sich auch Tatiana Cirisano an, die als Analystin für das Musikbusiness bei Midia Research tätig ist. Sie hat im Rahmen der Studie die Ticketkauf-Motivation untersucht, also die Gründe, warum Menschen Geld für den Kauf von Karten für Livemusik-Events wie Konzerte und Festivals ausgeben.

Tourneen seien in der Vergangenheit stark mit der Entdeckung neuer Künstler/innen einhergegangen. Nur etwa ein Viertel der Befragten gab jedoch an, Konzerte aufzusuchen um Künstler/innen zum ersten Mal live zu erleben. Die Mehrzahl hingegen antwortete auf die Frage nach ihrer Motivation, sie wollten keinesfalls die Tour ihrer Lieblingskünstler/innen verpassen. Bestehendes Fantum habe sich daher zu der mit Abstand wichtigsten Motivation entwickelt, Konzertkarten zu erwerben.

Das sei ein großer Wandel im Vergleich zu früher. In Zeiten des Internets sei der Bedarf, das Aufsuchen von Musikclubs und Bars dafür zu nutzen, neue Musik und Künstler/innen zu entdecken oder die Fangemeinde der eigenen Musik zu erweitern, stark gesunken. 

Heute können Hörer/innen kostenlos oder für geringe Kosten (neue) Musik kennenlernen und danach entscheiden, ob sie ein Konzert besuchen wollen. Will Page bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt: “Entdeckung veranlasst Erfahrung”.

Der Publikumswandel hin zur etablierten Fangemeinde macht somit sehr deutlich, dass die Live Musik- und Tonaufnahmen/Tonträger-Branchen mittlerweile sehr eng miteinander verbunden sind.

Demographischer Wandel

Nach den Ergebnissen der Midia Research-Umfrage erwies sich etwa das Genre der Rockmusik als besonders beliebt im Live-Geschäft. Dieses Ergebnis untermalt Cirisano mit einem Verweis auf die große Begeisterung für Legacy-Rock-Tourneen von Bands wie Bruce Springsteen & The E Street Band, Metallica und Guns N’ Roses. 

Besonders präsent auf diesen Konzerten ist ein eher älteres Publikum. Der Musikkonsum der jüngeren Generation zeigt sich deutlich stärker fragmentiert, möglicherweise durch die Verwendung von - vor allem bei jüngeren Musikhörern beliebten - Plattformen wie Spotify, Instagram und TikTok, die viele Möglichkeiten zur Entdeckung neuer Musik bieten. 

Cirisano zieht daraus den Schluss, dass Superstars in Zukunft ihren großen Einfluss ein wenig einbüßen werden und sich das Live-Geschehen dann neben einzelnen sehr großen Shows vor allem um mittelgroße Shows drehen wird.

Fehlender Nachwuchs

Auch Page sieht eine Gefahr für größere Events, die jedoch weniger mit einer sinkenden Nachfrage an Superstars, sondern vielmehr mit Nachwuchsproblemen zu tun hat. Er verweist auf eine im Jahr 2015 von The Economist veröffentlichte Übersicht, die das Durchschnittsalter von Festival-Headlinern zeigt. Beim Glastonbury Festival stieg dieses beständig, bis es den Durchschnitt von 58 Jahren erreichte - wohlgemerkt im Jahr 2015. Page ruft dazu auf, sich hier Gedanken über eine mehr ausgewogene demographische Gestaltung zu machen.

In diesem Rahmen zitiert Page eine Aussage Shain Shapiros aus dessen neuem Buch “This Must Be The Place”:

“Live Musik ist eine Sanduhr, keine Pipeline. Wenn wir nicht in die Basis investieren, wird es bald mehr Veranstaltungsorte als Stars geben, die sie füllen können”. 

Für ein vielfältiges Publikum bedarf es demnach ein vielfältiges Angebot, das nur auf dem Weg der Nachwuchsförderung und dem Nachwuchsaufbau erreicht werden kann. 

Es müsse unbedingt geklärt werden, warum Ticketkäufer bereit seien, 200 britische Pfund für eine Stadionshow zu bezahlen, nicht aber 20 Pfund für den Auftritt einer vielversprechenden Nachwuchsband.

Boom der Stadionkonzerte

Auch wenn die Prognose weniger positiv ausfällt, stehen große Stadionkonzerte laut der Analyse von Page aktuell hoch im Kurs. Das Wembley Stadion etwa war laut Page im letzten Jahr Gastgeber von mehr Musikkonzerten als Fußballspielen.

Dieselbe Entwicklung lässt sich auch in Deutschland beobachten. Selten hat das Land so viele größtenteils ausverkaufte Stadiontourneen erlebt wie im Jahr 2023: Weltstars wie Beyoncé, Bruce Springsteen, The Weeknd und Harry Styles spielten nicht nur mehrere Stadionkonzerte, sondern traten überwiegend vor ausverkauften Häusern auf.

Dank der Analyse von Page lässt sich dieser Wandel inzwischen quantifizieren. Der Anteil von Großevents wie Stadionkonzerte und Festivals macht im UK die Hälfte aller Einnahmen aus dem Kartenverkauf aus. 2019 waren es hingegen lediglich 40 Prozent. 

Die Einnahmen durch den Verkauf von Tickets im Jahr 2022 sind laut Page insgesamt um 22 Prozent  im Vergleich zum vorpandemischen Jahr 2019 gestiegen. 

Große Veränderungen

Die Entwicklung hin zu einer erhöhten Nachfrage an Stadionkonzerten wird noch deutlicher, wenn man einen Blick auf die Zahlen des Jahres 2012 wirft.

Im Jahr 2012 beliefen sich die Ausgaben der britischen Bevölkerung für Livemusik auf gerade einmal 1,2 Milliarden Pfund. Stadien und Festivals generierten dabei nur 23 Prozent dieser Summe. 

Somit haben Stadion- und Festival-Shows ihren Anteil an den Einspielergebnissen mehr als verdoppelt - und das bei gleichzeitiger Verdoppelung der Einspielergebnisse insgesamt. Von weniger als einem Viertel der 1,2 Milliarden Pfund machen sie nun fast die Hälfte der 2,1 Milliarden Pfund aus. 

Das bedeutet: Alle Clubshows, alle Auftritte in mittelgroßen Hallen, Arenen sowie alle klassischen Konzerte (eine eigene Kategorie) erzielen im UK zusammengenommen weniger Umsatz als die Stadionkonzerte.

Neben dem dramatischen Einbruch der klassischen Musik (Rückgang von 14 auf 4 Prozent!) fällt vor allem ein deutlicher Rückgang bei Arena-Shows (minus 6 Prozent) sowie bei Shows in mittelgroßen Hallen auf (minus 9 Prozent). Clubshows wuchsen hingegen leicht von 11 auf 13 Prozent.

Weniger Konzerte insgesamt

Zu denken gibt jedoch, dass die absolute Zahl der Konzerte trotz des Umsatzbooms in der Livebranche das Niveau des Jahres 2019 nicht erreicht hat. Während der Corona-Pandemie war die Zahl der Konzerte insgesamt um 26 Prozent zurückgegangen, wobei Clubshows mit einem Rückgang von mehr als 40 Prozent besonders hart getroffen waren.

Nach dem Ende der Corona-Maßnahmen sei das Angebot an Konzerten aktuell aber immer noch als geringer als zu vorpandemischen Zeiten. 

Keine überraschende Entwicklung, bedenkt man, dass viele kleinere Musiker/innen während der Pandemie durch fehlende Auftrittsmöglichkeiten an ihre Existenzgrenzen gelangt sind und nun weniger Budget zur Verfügung haben, um eine Tour umzusetzen. 

Zahlreiche Bands und Veranstalter haben während der Pandemie aufgegeben. Andere stellen fest, dass die Zahl der zahlenden Besucher stark abgenommen hat. Während das Live-Musik-Business insgesamt boomt, offenbart der Blick auf kleinere und mittelgroße Konzerte ein deutlich differenziertes Bild.

Nachhaltigkeit des Stadion-Booms

Steigende Kosten und die hohe Inflation belasten ebenfalls den Willen, Konzerte zu veranstalten oder Tourneen durchzuführen. Bei diesen beiden Faktoren handelt es sich auch um zwei mögliche Gefahren für den aktuellen Boom von Stadionkonzerten.

Die immer noch hohe Inflation könnte dazu führen, dass sich Musikfans aus finanziellen Gründen dafür entscheiden könnten, seltener Konzerte zu besuchen. 

Auch Cirisano gibt in ihrem Artikel an, dass sich viele Teilnehmer/innen der Umfrage von  Bandsintown und Midia Research über die momentan beobachtbaren Preisanstiege für Konzerte, etwa durch teure Tickets und Zusatzgebühren, verärgert gezeigt hätten. 

In den USA hat sich sogar US-Präsident Biden im Kampf gegen hohe Zusatzgebühren (engl. junk fees) engagiert und Zusicherungen der großen Veranstalter bzw. Ticketanbieter erhalten.

Anhaltend hohe Nachfrage

Trotz dieser Frustration bleibt die Nachfrage nach Konzertkarten weiterhin hoch. Wie das Online-Magazin musically berichtet, gaben 39 Prozent der durch Midia Research und Bandsintown Befragten an, im Jahr 2023 mehr Shows besuchen zu wollen als im Jahr 2022. Lediglich 15 Prozent rechneten damit, weniger Shows zu besuchen.

In der Umfrage wird deutlich, dass gerade das zahlungskräftigere Publikum für Superstar-Shows in Arenen und Stadien davon ausgeht, im Jahr 2023 weniger Konzerte zu besuchen als noch im Jahr 2022. 

Erfolgsmeldungen mit Einschränkungen

Obwohl nicht alle im Rahmen seiner Analyse getroffenen Prognosen rosig ausfallen, zeigt sich Page sehr zuversichtlich. Keine andere Branche könne von sich behaupten, so hart getroffen gewesen zu sein und sich anschließend so gut erholt zu haben. 

"Abgesehen von den Dämpfern ist es schwer, angesichts dieser atemberaubenden Statistiken nicht positiv gestimmt zu sein – 4 Milliarden Pfund an jährlichen Verbraucherausgaben für die Musik, die wir lieben!"

Page liegt insofern richtig, als dass die Erholung des Livemusik-Marktes sehr viel schneller und nachhaltiger verlief als beispielsweise in der Kino-Branche. Neben den Warnsignalen in Hinblick auf mögliche Zurückhaltung der Konsumenten beim Ticketkauf sollte vor allem die gesunkene Zahl der kleineren bis mittleren Konzerte nachdenklich machen.

Profitieren nur die Großen?

Obwohl es sich bei weitem nicht nur um Konzerte von Nachwuchs-Acts handelt, rekrutieren sich doch aus ihnen künftige Arena- oder Stadion-Acts. Gleichzeitig bilden sie das Rückgrat der Livemusik-Szene, denn von Stadionkonzerten profitieren nur die ganz großen Veranstalter, die in der Lage sind, solche Mega-Events zu organisieren. 

Es gilt daher, bei der Betrachtung der Livemusik-Szene alle Ebenen zu betrachten und sich nicht von glänzenden Erfolgen einiger Stadion-Tourneen blenden zu lassen.

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